Perfectus, ein Ausnahmefall vs. Normalität


I. Akt. Denken.

perfectus (lat.) – vollkommen, vollendet

Nec quicquam difficilius quam reperire, quod sit omni ex parte in suo genere perfectum. (Cicero)[*]
Nichts ist schwieriger als etwas zu finden, was in seiner Art in jeder Beziehung
vollkommen wäre.
[*]
Marcus Tullius Cicero (106 – 43 AC): Laelius de amicitia 21,79

A.
Es gilt also zu erkennen, dass das Fehlerhafte die Normalität ist. Wäre es leicht, etwas perfektes, also ohne Makel und Fehler, zu schaffen, wäre das Perfekte nicht so selten vorkommend und folglich nicht so erstrebenswert.

Aber was für Schlussfolgerungen soll ich aus diesem Status quo ziehen?

These 1.
„Der Fehler wäre das Problem…“
Man soll sich in diesem Fall also als Ziel ein absolutes, bedingungsloses, hehres Streben, jegliche Fehler zu vermeiden, setzen. Oder, wenn das nicht klappt, mindestens alle zu korrigieren. Dann noch die Korrekturen zu korrigieren…

These 2.
„Das System wäre das Problem…“
In diesem Fall soll man sich das Ziel setzen, jenes System zu erschaffen, in dem der Fehler an sich nicht vorkommt. Schlicht nicht möglich ist. Am besten, wenn er sogar als Begriff nicht existiert.

B.
Das Vorgehen nach der These 1 scheint mir sehr aufwendig zu sein. Außerdem, je nach dem Fehlergrad des Systems, läuft man Gefahr sich zu verzetteln, das Eigentliche, worum es geht, aus den Augen zu verlieren und sich in den unendlichen Tiefen des Kontrolldrangs zu verheddern. Und woher wird man dann wissen können, dass es so weit ist, dass man ALLE gefunden und behoben hat?

Für die These 2 benötigt man wiederum zuerst eine genaue Analyse, was ein Fehler überhaupt ist, und dann, aber noch bevor man den Begriff los wird, sollte man sich noch vergewissern, dass unter Umständen danach das System sich selbst nicht auflöst. Obwohl… das wäre auch eine Lösung… Oder?…

Es klingt zwar verlockend, aber ob hinter dieser Versprechung mich auf diese Weise an das Ziel heranzubringen sich nicht ein Versuch versteckt hat, de facto mein Ziel zu vernichten, sobald ich es erreicht habe? Ein Paradoxon also… Oder eine Verschwörung?…

Eben, wie werde ich dann feststellen können, dass es sich um jenes perfekte, vollkommene System handeln soll? Wenn man nicht mal weiß, was da überhaupt ein Fehler wäre? Außerdem, wird man dabei nicht misstrauisch? Man kennt das doch: „Zu schön, um wahr zu sein…“, irgendwo muss da doch der Haken sein. Das gibt’s doch nicht, kein Fehler, nix… Und so nebenbei, was für eine Schadenfreude verspürt man, wenn man doch einen findet? Ein aller kleinster, der kleinste reicht dabei völlig aus… ob gefunden oder erfunden… ist dann auch unwichtig…

Aber gut, angenommen, man hat ein System, in dem es nicht möglich ist, Fehler zu machen, egal was man tut oder nicht tut. Wird dadurch dieses System aber auch wirklich perfekt?… Ja, ich habe definitiv etwas übersehen. Ich brauche also etwas anderes…

C.
Wie erkennt man das Perfekte, ohne das Gegenteil davon zu kennen?

Etwas fehlerhaftes scheint also notwendig zu sein, damit ich etwas als perfekt erkennen kann und das auch genießen und Freude dabei spüren kann, etwas vollkommenes mit meinen Sinnen und meinem Geist zu erfassen. Etwas, in dem nur eine gewisse Abwesenheit mir mitteilt, dass ich vor mir einen Zustand der Dinge habe, der sehr selten und besonders ist. Womöglich auch nicht wiederholbar und vielleicht auch nur für einen Moment da…

Ein Hauch der Unvollkommenheit, als eine rein hypothetische Möglichkeit angedeutet…

Wäre da bloß nicht dieser Klecks gewesen…

II. Akt. Zeichnen.

Ich zeichne, es ist die Bildfläche, in deren Grenzen ich mich der Vollkommenheit zu nähern versuche. Ich zeichne mit Tusche, das ist ein eigenwilliges Medium, das Disziplin und Geduld erfordert.

Meinen Gedanken zu folgen, soll ich mich nicht darauf konzentrieren, Kleckse zu vermeiden, und auch nicht darauf, aus Klecksen ein Bild zu machen oder eventuelle Kleckse deren Leben weiter als „gewünschte Bildelemente“ führen lassen, sondern etwas ganz anderes anstreben…

Ich brauche so was wie einen „Fehler-Extrakt“, einen Fehler in homöopathischen Mengen… Einen Fehler quasi im Hinterkopf, etwas wie ein archimedischer Punkt der endgültigen Fehlerlosigkeit.

DAMIT ICH MICH DER PERFEKTION AUF DER BILDFLÄCHE NÄHERN KANN.

© R. Shaparenko


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